Google-Autocomplete: Beihilfe zur Holocaust-Leugnung?

Es gab k...

Es ist schon erstaunlich, welche offenbar populären Suchanfragen die Google-Autovervollständigung zu Tage fördert, sobald man nur „es gab k“ eingibt…

Screenshot - 17_04_2015 , 15_40_07 holocaust

 

 

 

 

 

 

 

 

Bleibt nur zu hoffen, dass die deutsche Justiz das nicht zum Anlass nimmt, Google zu einer Manipulation des Algorithmus zu zwingen – wie sie es wahrscheinlich schon im Fall Bettina Wulff (oder wie sie inzwischen heißen mag) getan hätte, hätten sich die beiden nicht zuvor außergerichtlich geeinigt.

Denn jedem einigermaßen klar denkenden Menschen muss schließlich klar sein, dass diese (oft überaus nützliche) Funktion zwar viel über diejenigen aussagt, die nach Informationen über Personen oder Sachverhalte suchen – aber eben rein gar nichts über diese Personen und Sachverhalte selbst. Und dass Meinungen wie „Es gab keinen H0locaust“ & Co. sich nicht essentiell von Meinungen wie „Es gab keine Mondlandung“, „Es gab kein Mittelalter“ oder „Es gab keine Evolution“ unterscheiden.

„Krypto-Normierung“: Niklas Luhmanns Version von „Verstehen heißt nicht einversta nden sein“

„Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ ist eine vor allem in der Sozial- und Jugendarbeit verbreitete Phrase. Etwa im Sinne von „Ich verstehe, dass du zu heiß gebadet wurdest und darum Intensivtäter geworden bist, aber deshalb bin ich noch lange nicht damit einverstanden.“ 😉

Hintergrund: Wer Phänomene erklärt oder auch nur zu erklären versucht, sieht sich oft mit dem Vorwurf konfrontiert, er/sie wolle diese Phänomene damit auch rechtfertigen (gerne auch mit dem Begriff „relativieren“ versehen) oder würde sie zumindest ungewollt rechtfertigen.

In Niklas Luhmanns Frühwerk Legitimation durch Verfahren bin ich vor einiger Zeit auf eine Stelle gestoßen, die dieses Problem in seinem unnachahmlich lockeren Stil auf den Punkt bringt:

„[F]unktionale Analysen [können] ihren Gegenstand nicht »rechtfertigen«. Das wird von Kritikern, die mit dieser Diskussion nicht vertraut sind, zuweilen verkannt. […] Offenbar wirkt die Darstellung einer Funktion […] wie eine versteckte Empfehlung, eine Krypto-Normierung. Ich kann nur betonen: das ist nicht gemeint, und wer diesen Eindruck bekommt, soll ihn allzu suggestiven Formulierungen zuschreiben und diskontieren.“ (Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978, S. 6. Unterstreichungen hinzugefügt.)

Wer sich also z.B. mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, er würde irgendetwas „rechtfertigen“, weil er einen Zusammenhang zwischen der Weltwirtschaftskrise und der Attraktivität Hitlers herstellt, oder zwischen der „Dialektik der Ordnung“ und dem Holocaust, kann mit Luhmann ganz gelassen antworten: „Bitte diskontieren.“ 😉

»Existenz« vs. »Rückkehr«

Einer der 23 Leserkommentare, die erscheinen konnten, bevor die Kommentarfunktion zu einem Artikel der WELT über »Minister Edelsteins seltsame Image-Kampagne« deaktiviert wurde, lautet:

Ein Rückkehrrecht für Palästinenser ist ein Euphemismus dafür, das Existenzrecht Israels zu verneinen.

Das ist wohl richtig. Aber der Umkehrschluss ist es nicht weniger: Ein Existenzrecht für Israel ist ein Euphemismus dafür, das Rückkehrrecht für Palästinenser zu verneinen. Ist dieses nobler als jenes? Sicher keine Frage, die von einem deutschen Standpunkt aus konstruktiv beantwortet werden kann, soviel ist klar. Aber es wirft die Frage auf, ob Deutsche von Palästinensern verlangen können und dürfen, für ihre eigenen (deutschen) Verbrechen an Juden zu sühnen.

Sen am Ende – eine Nachlese

Einige Tage sind ins Land gegangen seit dem Kommentar zu Faruk Sens missverständlichen – und scheinbar nur allzu genüsslich auch missverstandenen – Äußerungen zu den (nordwest-) europäischen Türken in der Rolle der „neuen Juden“.  Zeit für eine kleine Nachlese.  Zunächst sei festgestellt, dass der Zentralrat der Juden – in Person von Generalsekretär Stefan Kramer – sich von der anti-antisemitischen Hysterie um und gegen Sen distanziert. Der Tagesspiegel zitiert aus einem Brief Kramers an den NRW-Integrationsminister Armin Laschet:

„Faruk Sen ist seit Jahrzehnten ein Freund der jüdischen Gemeinschaft nicht nur in Deutschland. Faruk Sen ist weder ein Holocaustrelativierer noch ein Antisemit. Er schrieb die Kolumne, um einem jüdischen Unternehmer in der Türkei, der die dortige Fremdenfeindlichkeit verurteilte, beizustehen.“

Kramer wiederum zitiert auch Sens inkriminierten Satz, der in der Berichterstattung meist (wenn nicht immer) nur indirekt wiedergegeben wurde:

„Obwohl sich unter diesen unseren Menschen, die sich seit 47 Jahren in der Mitte und im Westen des alternden Kontinents niederlassen, 125 000 Unternehmer befinden …, sehen sie sich einer Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt, der schon die Juden, wenn auch auf einer anderen Skala und in unterschiedlicher Erscheinung, ausgesetzt waren“ (Unterstreichung hinzugefügt).

Damit bestätigt sehe ich meine Sen gegenüber wohlwollende Interpretation zusätzlich bestätigt – denn Sen hat mit der unterstrichenen Passage ausdrücklich eine wesentliche Einschränkung mitgeliefert, die man allerdings – wohlwollende Neutralität vorausgesetzt – auch so als implizit gegeben hätte akzeptieren können.  Wie Kramers Brief zeigt, scheint Sens Entlassung als vorauseilender Kotau vor dem Holocaust-Vergleichs-Tabu übers Ziel hinausgeschossen zu sein – zumindest, wenn man davon ausgeht, dass der Zentralrat der Juden oberster Hüter des Tabus und höchste Instanz für Verurteilung oder Freispruch  von Tabubrechern ist.  Vergleicht man die vernünftige Stellungnahme Kramers allerdings mit dem alarmistischen Getue um den Fall Oettinger, ergibt sich indessen der Eindruck einer gewissen Launenhaftigkeit dieses Gerichts. Oettinger hatte einfach groben verbalen Unfug begangen – der aber mit Juden und deren Verfolgung im NS-Staat nicht enger zusammenhing als jede andere denkbare Äußerung zum Nationalsozialismus (nicht enger etwa als Eva Hermans recycelte „Autobahnen“-Argumente). Auf keinen Fall hatte er den Holocaust relativiert oder gar „verharmlost“ – wohingegen man Sen, bösen Willen vorausgesetzt, durchaus eine Verharmlosungsabsicht unterstellen könnte.

Dass Sens Vergleich von Türken und Juden nicht ganz so extravagant ist, wie es manchem scheinen mag, verdeutlichen zwei weitere Beispiele aus Europa. Bei Shahid Malik, dem ersten moslemischen Minister Großbritanniens, sind nicht nur die Türken, sondern alle Moslems die „Juden Europas“. Er meint und sagt das so, wie es wohl auch Sen gemeint, aber nicht deutlich genug gesagt hatte:

„[…] if you ask Muslims today what do they feel like, they feel like the Jews of Europe. I don’t mean to equate that with the Holocaust but in the way that it was legitimate almost – and still is in some parts – to target Jews, many Muslims would say that we feel the exact same way. […] If you think about the earlier stages of what was going on in Europe in the later (19)20s and early (19)30s and the way that Jews were scapegoated and stereotyped, I can certainly understand a sentiment of that is going on for the Muslim community.“

„Wenn man heute Moslems fragt, wie sie sich fühlen, dann fühlen sie sich wie die Juden Europas. Ich will das nicht mit dem Holocaust gleichsetzen, aber so, wie es fast legitim war – und mancherorts immer noch ist – sich auf die Juden einzuschießen… viele Moslems würden sagen, dass wir uns ganz genauso fühlen. […] Wenn man an die früheren Stadien denkt von dem, was in den späten Zwanziger und frühen Dreißigerjahren vor sich ging, und an die Art, wie die Juden zu Sündenböcken gemacht und mit Stereotypen belegt wurden, dann kann ich durchaus verstehen, dass sich die moslemische Gemeinschaft ähnlich fühlt“ (Unterstreichung hinzugefügt).

Hier haben wir es mit demselben Vergleich zu tun wie bei Sen – die Juden, die als sozusagen archetypische „Fremde“ Opfer von scapegoating und stereotyping werden. Geschickter als Sen versucht Malik sofort, sich durch eine Art Schutzklausel dem Gleichsetzungsvorwurf zu entziehen – dennoch schlug das Statement hohe Wellen. (Ob er in Deutschland nach so etwas im Amt hätte bleiben können, sei dahingestellt; der Fall Sen jedenfalls stimmt da skeptisch.) Malik schränkte seine Aussage bewusst auf die Situation der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre ein. Bekanntlich mündeten diese in Deutschland in den Holocaust. Ob das eine historisch zwangsläufige Entwicklung war, darüber streiten sich seither die Gelehrten. Nehmen wir einmal an, es wäre keine – wäre dann der Antisemitismus in Deutschland vor der Machtergreifung etwa um ein Jota weniger zu verurteilen gewesen? Und wie sieht es in Polen aus, wo der Vorkriegs-Antisemitismus weitaus krassere Formen hatte als in der Weimarer Republik? Wo die Juden im Gegensatz zur Situation in Deutschland auch ein ethnisch viel eindeutiger „fremdes“ Element innerhalb der Mehrheitsgesellschaft bildeten und zur Zielscheibe von scapegoating und stereotyping wurden? (vgl. exemplarisch Viktoria Pollmanns Untersuchung Untermieter im christlichen Haus.) Ist diese Art der Diskriminierung, die der aktuellen anti-islamischen Stimmung in Europa in gewisser Hinsicht frappierend ähnelt, etwa allein vor dem Hintergrund des Holocaust verwerflich?

Bleiben wir beim Stichwort Polen. Dessen Premierminister Donald Tusk, so berichtete eine israelische Presseagentur vor einigen Wochen irrtümlich, habe einen jüdischen Großvater gehabt. Hintergrund: Tusk entstammt der Minderheit der Kaschuben, die seit Jahrhunderten im deutsch-polnischen Grenzland bei Danzig gelebt und eine Art „hybrider“ Identität gepflegt hatten. (Günter Grass, selbst kaschubischer Abstammung, hat Land und Leuten in der Blechtrommel ein literarisches Denkmal gesetzt.) Im Zweiten Weltkrieg wurde Tusks Großvater zur Wehrmacht eingezogen – was Tusk im Präsidentschaftswahlkampf 2005 möglicherweise zum Verhängnis wurde: Diese „Enthüllung“ dürfte jedenfalls dazu beigetragen haben, dass Tusk dem nationalistischen Gegenkandidaten Lech Kaczynski unterlag. Im Interview mit der führenden Tageszeitung Haaretz berichtete Tusk von diesem Vorfall und erläuterte die Hintergründe:

„Meine kaschubische Familie, das sind, ähnlich wie die Juden, Menschen, die in Grenzregionen geboren wurden und gelebt haben und von Nazis und Kommunisten mangelnder Loyalität bezichtigt wurden.“

„Moja kaszubska rodzina, podobnie jak Żydzi, to ludzie którzy urodzili się i żyli w regionach przygranicznych i byli oskarżani przez nazistów i komunistów o brak lojalności“ (zitiert nach Gazeta Wyborcza, Originalartikel hier).

Sachlich nicht ganz einwandfrei, aber es ist klar worauf Tusk hier hinaus will: Auf einen Vergleich des Status  von Juden und Kaschuben als unfreiwillige „Grenzexistenzen“, als „uneindeutig“ (im Sinne Zygmunt Baumans); mal besitzergreifend eingemeindet, mal Gegenstand eines gnadenlosen  „Othering“. In dieser Hinsicht sind sich die europäischen Juden der Vorkriegszeit, Kaschuben, Deutsch-Türken und britische Moslems durchaus nicht unähnlich.

Nun muss man solche Vergleiche nicht mögen. Man mag sie, wenn man denn will, als wichtigtuerisch sehen oder als anbiedernd. Aber aus ihnen den Vorwurf eines latenten oder offenen Antisemitismus zu destillieren oder in ihnen den Versuch zu sehen, den Juden „ihren“ Holocaust zu entwenden, ist einigermaßen absurd.  Tusks Vergleich, obwohl oder weil direkt an ein israelisches Publikum gerichtet, hat denn auch keinerlei Empörung ausgelöst. Bei Malik sah das schon anders aus – bei Sen bekanntlich ganz anders. So drängt sich auch der Verdacht auf, dass man in Sens Fall vielleicht nur eine Gelegenheit genutzt hat, eine längst fällige Abrechnung zu vollziehen:

Im SPIEGEL wies Ferda Ataman auf Sens „Doppelzüngigkeit“ hin; er äußere sich in deutschen und türkischen Medien regelmäßig widersprüchlich. Ataman zitiert den Dortmunder Kommunikationsforscher Daniel Müller mit den Worten: „In den deutschen Medien ist er seit über 20 Jahren der verständnisvolle Türkei-Experte, in den türkischen der Anwalt der unterdrückten Landsleute.“ Da mag etwas dran sein; Ataman liefert  jedenfalls reichlich Anschauungsmaterial, um Sens Agieren als „Doppel-V-Mann“ (so Willi Zylajew, CDU) und das politische Unbehagen ob dieser Rolle zu illustrieren.  Von daher schwingt in dem Artikel auch eine gewisse Schadenfreude mit, dass es Sen nun endlich „erwischt“ hat – wenn freilich auch aus den falschen Gründen:

„Dass Faruk Sen […] die Welt nicht mehr versteht, ist durchaus nachvollziehbar. Er hat in weitaus bedeutenderen türkischen Medien Aussagen gemacht, bei denen er froh sein konnte, dass sie in Deutschland ignoriert wurden. Und ausgerechnet jetzt, wo er einmal die Türkei kritisiert – ‚mit einem ehrenwerten Anliegen‘, wie Sen sagt, wird ihm das zum Verhängnis.“

Von Oettinger zu Faruk Sen…

Da ist das Geschrei groß, mal wieder: Faruk Sen (SPD) vergleicht die Lage der Türken in Deutschland 2008 mit der der Juden in Deutschland „vor 1945“. Schon ein ziemlich absurder Vergleich, wer würde das bestreiten. Doch die Empörung hat einen unangenehmen Beigeschmack.


Ob Sen entlassen wird (WAZ) oder nur mit „einer Abmahnung rechnen muss“ (NRZ), bleibt abzuwarten; unwahrscheinlich jedenfalls, dass er aus der Nummer im gleichen Job wieder herauskommt. Seine Reputation als Wissenschaftler wird er nicht wieder herstellen können. Aber bei allem berechtigten Kopfschütteln über den Vergleich (bzw. die Gleichsetzung, das wird ja oft verwechselt) muss die Frage erlaubt sein, was dahinter steckt. Was hat Sen nun wirklich gesagt? Mangels türkischer Sprachkenntnisse sind wir darauf angewiesen zu glauben, was die deutsche Presse kolportiert. Zitat NRZ:

Wie berichtet, hatte Sen in einem Artikel in der türkischen Zeitung „Referans“ die Diskriminierung von Türkeistämmigen in Europa mit der Judenverfolgung während der Zeit der NS-Diktatur verglichen. Darin hatte er die Türken als „die neuen Juden Europas“ bezeichnet, die – „wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlichen Erscheinungsformen – wie die Juden diskriminiert und ausgeschlossen“ würden.

So weit, so schlecht. Was Sen zu dieser These bewogen hat, interessiert da weniger – noch schlechter. Dabei kann man es durchaus nachlesen, etwa in der NRZ:

Mit dem Artikel habe er eigentlich gegen Antisemitismus in der Türkei Stellung beziehen wollen, erklärte Sen. Ausgangspunkt seien antisemitische Auswüchse gegen den jüdischen Unternehmer Ishak Alaton in der Türkei gewesen. Mit dem Artikel habe er an die Solidarität der Auslandstürken appellieren wollen, die selbst in einer mitunter schwierigen Situation in Europa lebten.

In der FAZ erfährt man noch einiges mehr. Demnach schrieb Sen,

bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sei es nicht einfach gewesen, in europäischen Ländern ein Jude zu sein“. Nach einem Rückblick auf die Aufnahme von Juden durch das Osmanische Reich nach 1492 und durch die Türkische Republik zwischen 1933 und 1945 fuhr Sen fort: „Fünfmillionenzweihunderttausend Türken leben in Europa, das durch große Grausamkeiten diesen Kontinent judenfrei zu bekommen versuchte. Sie wurden die neuen Juden Europas. Obwohl unsere Menschen, die seit 47 Jahren in Mittel- und Westeuropa beheimatet sind, 125.000 Unternehmer mit einem Gesamtumsatz von 45 Milliarden Euro hervorgebracht haben, werden sie – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlichen Erscheinungsformen – wie die Juden diskriminiert und ausgeschlossen(Unterstreichungen hinzugefügt).

Sen bezieht sich hier – eigentlich ganz unmissverständlich – nicht auf die Judenvernichtung durch die Nazis, sondern auf den Status als Außenseiter schlechthin, unter dem die Juden in Europa seit dem Mittelalter litten. Eine großangelegte Judenverfolgung etwa konnte es im mit NS-Deutschland verbündeten Franco-Spanien schon deswegen nicht geben, weil die spanischen Juden eben schon 1492 vertrieben worden waren. Das Wort Pogrom stammt nicht zufällig aus dem Russischen. Die französische Öffentlichkeit brauchte Ende des 19. Jahrhunderts keine Beweise, um Alfred Dreyfus Hochverrat anzulasten – äußerst vage Indizien und seine jüdische Herkunft reichten. Offensichtlich ging es Sen weder darum, den Holocaust durch Vergleiche mit (harmlosen?) Brandanschlägen zu „verharmlosen“ (das Totschlagargument schlechthin), noch alarmistischen über einen früher oder später bevorstehenden Völkermord an den europäischen Türken zu phantasieren.

Interessant ist freilich nicht nur was Sen gesagt hat, sondern warum, in welchem Zusammenhang, er es gesagt hat. Dazu heißt es in der FAZ weiter:

Anlass für diesen Kommentar Sens waren antisemitische Vorkommnisse in der Türkei, die sich gegen den bekannten jüdischen Unternehmer Ishak Alaton, Gründer der Alarco Holding, gerichtet hatten. Sen schrieb an die Adresse des Attackierten, der sich […] über Antisemitismus beklagt hatte und anschließend beschimpft und attackiert worden war: „Als europäische Türken können wir Ihre Bedeutung für die Türkei gut einschätzen. Wir, fünf Millionen zweihunderttausend mit gleichem Schicksal in Europa, die neuen Juden Europas, können Sie am besten verstehen. Seien Sie nicht traurig wegen der antisemitischen Tendenzen einiger Gruppen in der Türkei. Als türkisches Volk und als neue Juden Europas unterstützen wir Sie.“

Hier kann nun gar kein Zweifel mehr bestehen, worauf Sen hinaus wollte: Seiner Ansicht nach gleichen sich Juden und Türken darin, dass beide als Minderheiten – trotz ihrer wirtschaftlichen Leistung für die Mehrheitsgesellschaft – ausgegrenzt, diskriminiert, am Fortkommen gehindert, geheimer Umtriebe verdächtigt, und zuweilen eben auch verbrannt wurden oder werden.

Inwieweit das gerechtfertigt ist, darüber kann man natürlich streiten. Aber es ist sicher keine Gleichsetzung mit dem Holocaust.

Nicht zuletzt wollte Sen den Türken offenbar auch ins Stammbuch schreiben: Wie könnt ihr euch eigentlich darüber empören, dass Türken anderswo als Minderheiten verfolgt werden – und gleichzeitig im eigenen Land Minderheiten verfolgen?

Natürlich waren Sens Äußerungen ungeschickt – dass seine an die türkische Öffentlichkeit gerichteten Mahnungen a) früher oder später in Deutschland bekannt werden und b) dort für einen Skandal sorgen würden, hätte er wissen müssen. Aber zu einem Missverständnis gehören immer zwei: Derjenige, der sich missverständlich ausdrückt. Und derjenige, der missversteht – oder missverstehen will.

Und dass man in Deutschland missverstehen will, ist offensichtlich. Denn Sen hat gegen eines der letzten Tabus einer Gesellschaft verstoßen – man vergleicht nicht mit dem Holocaust. Der Holocaust hat die Qualität eines außerhistorischen, metaphysischen Ereignisses. Und die Stichworte „Juden“ und „Holocaust“ sind unauflöslich miteinander verbunden. Der Holocaust wird – die Geschichte rückwärts lesend – als logische, zwingende Konsequenz der europäischen Judenfeindschaft interpretiert. Wer sich zu jüdischen Themen äußert, ist moralisch gehalten, den Holocaust mitzudenken. Wer immer irgendeinen Bezug zwischen der Diskriminierung von Juden und der anderer Gruppen herstellt, sieht sich daher unvermeidlich dem Vorwurf ausgesetzt, den Holocaust zu „verharmlosen“, zu „relativieren“ oder zu „instrumentalisieren“. Dem Holocaust haftet etwas Sakrales an: Man darf ihn nicht sinnlos im Munde führen, für profane Zwecke verwenden; man darf ihn nicht mit anderem vergleichen – „Du sollst keinen Holocaust neben mir haben“. Man darf ihn nicht relativieren – in einer Zeit des Relativismus ist ausgerechnet der Holocaust das letzte Absolutum. Vor allem darf man ihn nicht leugnen – der Holocaustleugner begeht heute eine so ungeheuerliche Schandtat wie früher der Gottesleugner.

Das ist auch der Grund, warum man über die – ja tatsächlich zumindest für solche, die sich mit Genuss irreführen lassen, irreführenden – Äußerungen Sens nicht einfach nur den Kopf schütteln und zur Tagesordnung übergehen wird, wie bei tatsächlichen oder vermeintlichen Unsinnigkeiten zu anderen Themen. Sen hätte behaupten können, die Erde sei flach; er hätte die Evolution in Frage stellen können, er hätte behaupten können, das Mittelalter oder die Mondlandung seien komplett erstunken und erlogen, was auch immer. Er hätte damit seine Reputation als Intellektueller beschädigt, würde nicht mehr ernst genommen. Wer aber flapsige Zusammenhänge zwischen der Diskriminierung von Juden und anderen herstellt, der wird ernst genommen – todernst.

Es müssen nicht mal Juden im verzapften Unsinn vorkommen, wie das Beispiel Günther Oettinger zeigt. Bekanntlich hatte der Hans Filbinger, NSDAP-Mitglied und als Marinerichter für Todesurteile gegen Deserteure verantwortlich, als „Gegner des NS-Regimes“ bezeichnet. Völliger Irrsinn, ohne jede Frage, der durchaus Zweifel am Verstand des Redners aufwirft. Aber mit dem Juden oder dem Holocaust hatte das gar nichts zu tun – Filbingers Todesurteile richteten sich gegen nicht-jüdische deutsche Soldaten. Dennoch musste Oettinger beim Zentralrat der Juden zerknirschte Abbitte leisten – und nicht etwa bei Historikern, die sich professionell mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Widerstands beschäftigen. Ganz so, als wäre diese Institution Fakten- und Gesinnungs-TÜV für sämtliche Äußerungen zu allem, was ’33-45 in Deutschland vorgefallen ist.

Damit freilich erweisen die offiziösen Repräsentanten des deutschen Judentums diesem einen Bärendienst – denn das Beharren darauf, oberste Instanz in allen Fragen des Nationalsozialismus zu sein, reduziert die lange und komplizierte Geschichte der europäischen Juden auf den Holocaust: „Juden, was waren das noch mal für welche? Ach ja, die, die von den Nazis verfolgt wurden“… Dass Juden auch zu anderen Zeiten ihrer Geschichte alles andere als privilegiert waren, wird geflissentlich ignoriert. Der Holocaust wird so zu einem diskursiven Schwarzen Loch, das alles, was zum Thema „Juden“ gesagt wird, in sich hineinfrisst. Mit seinen Äußerungen hat Faruk Sen den Ereignishorizont dieses Schwarzen Loches überschritten. Man kann ihm vorwerfen, dass er unvorsichtig war – in seiner Position hätte sich des fatalen Automatismus seiner, bösen Willen vorausgesetzt, durchaus sehr missverständlichen Ermahnung bewusst sein müssen. Vielleicht ist er deshalb ja wirklich für die Position ungeeignet. Das mag man so sehen. Das eigentliche Problem aber ist das Schwarze Loch, um das jede Erörterung jüdischer Themen und Diskriminierungsgeschichte rotiert und von dem sie letztlich absorbiert wird. Und nicht Faruk Sen.