Sen am Ende – eine Nachlese

Einige Tage sind ins Land gegangen seit dem Kommentar zu Faruk Sens missverständlichen – und scheinbar nur allzu genüsslich auch missverstandenen – Äußerungen zu den (nordwest-) europäischen Türken in der Rolle der „neuen Juden“.  Zeit für eine kleine Nachlese.  Zunächst sei festgestellt, dass der Zentralrat der Juden – in Person von Generalsekretär Stefan Kramer – sich von der anti-antisemitischen Hysterie um und gegen Sen distanziert. Der Tagesspiegel zitiert aus einem Brief Kramers an den NRW-Integrationsminister Armin Laschet:

„Faruk Sen ist seit Jahrzehnten ein Freund der jüdischen Gemeinschaft nicht nur in Deutschland. Faruk Sen ist weder ein Holocaustrelativierer noch ein Antisemit. Er schrieb die Kolumne, um einem jüdischen Unternehmer in der Türkei, der die dortige Fremdenfeindlichkeit verurteilte, beizustehen.“

Kramer wiederum zitiert auch Sens inkriminierten Satz, der in der Berichterstattung meist (wenn nicht immer) nur indirekt wiedergegeben wurde:

„Obwohl sich unter diesen unseren Menschen, die sich seit 47 Jahren in der Mitte und im Westen des alternden Kontinents niederlassen, 125 000 Unternehmer befinden …, sehen sie sich einer Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt, der schon die Juden, wenn auch auf einer anderen Skala und in unterschiedlicher Erscheinung, ausgesetzt waren“ (Unterstreichung hinzugefügt).

Damit bestätigt sehe ich meine Sen gegenüber wohlwollende Interpretation zusätzlich bestätigt – denn Sen hat mit der unterstrichenen Passage ausdrücklich eine wesentliche Einschränkung mitgeliefert, die man allerdings – wohlwollende Neutralität vorausgesetzt – auch so als implizit gegeben hätte akzeptieren können.  Wie Kramers Brief zeigt, scheint Sens Entlassung als vorauseilender Kotau vor dem Holocaust-Vergleichs-Tabu übers Ziel hinausgeschossen zu sein – zumindest, wenn man davon ausgeht, dass der Zentralrat der Juden oberster Hüter des Tabus und höchste Instanz für Verurteilung oder Freispruch  von Tabubrechern ist.  Vergleicht man die vernünftige Stellungnahme Kramers allerdings mit dem alarmistischen Getue um den Fall Oettinger, ergibt sich indessen der Eindruck einer gewissen Launenhaftigkeit dieses Gerichts. Oettinger hatte einfach groben verbalen Unfug begangen – der aber mit Juden und deren Verfolgung im NS-Staat nicht enger zusammenhing als jede andere denkbare Äußerung zum Nationalsozialismus (nicht enger etwa als Eva Hermans recycelte „Autobahnen“-Argumente). Auf keinen Fall hatte er den Holocaust relativiert oder gar „verharmlost“ – wohingegen man Sen, bösen Willen vorausgesetzt, durchaus eine Verharmlosungsabsicht unterstellen könnte.

Dass Sens Vergleich von Türken und Juden nicht ganz so extravagant ist, wie es manchem scheinen mag, verdeutlichen zwei weitere Beispiele aus Europa. Bei Shahid Malik, dem ersten moslemischen Minister Großbritanniens, sind nicht nur die Türken, sondern alle Moslems die „Juden Europas“. Er meint und sagt das so, wie es wohl auch Sen gemeint, aber nicht deutlich genug gesagt hatte:

„[…] if you ask Muslims today what do they feel like, they feel like the Jews of Europe. I don’t mean to equate that with the Holocaust but in the way that it was legitimate almost – and still is in some parts – to target Jews, many Muslims would say that we feel the exact same way. […] If you think about the earlier stages of what was going on in Europe in the later (19)20s and early (19)30s and the way that Jews were scapegoated and stereotyped, I can certainly understand a sentiment of that is going on for the Muslim community.“

„Wenn man heute Moslems fragt, wie sie sich fühlen, dann fühlen sie sich wie die Juden Europas. Ich will das nicht mit dem Holocaust gleichsetzen, aber so, wie es fast legitim war – und mancherorts immer noch ist – sich auf die Juden einzuschießen… viele Moslems würden sagen, dass wir uns ganz genauso fühlen. […] Wenn man an die früheren Stadien denkt von dem, was in den späten Zwanziger und frühen Dreißigerjahren vor sich ging, und an die Art, wie die Juden zu Sündenböcken gemacht und mit Stereotypen belegt wurden, dann kann ich durchaus verstehen, dass sich die moslemische Gemeinschaft ähnlich fühlt“ (Unterstreichung hinzugefügt).

Hier haben wir es mit demselben Vergleich zu tun wie bei Sen – die Juden, die als sozusagen archetypische „Fremde“ Opfer von scapegoating und stereotyping werden. Geschickter als Sen versucht Malik sofort, sich durch eine Art Schutzklausel dem Gleichsetzungsvorwurf zu entziehen – dennoch schlug das Statement hohe Wellen. (Ob er in Deutschland nach so etwas im Amt hätte bleiben können, sei dahingestellt; der Fall Sen jedenfalls stimmt da skeptisch.) Malik schränkte seine Aussage bewusst auf die Situation der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre ein. Bekanntlich mündeten diese in Deutschland in den Holocaust. Ob das eine historisch zwangsläufige Entwicklung war, darüber streiten sich seither die Gelehrten. Nehmen wir einmal an, es wäre keine – wäre dann der Antisemitismus in Deutschland vor der Machtergreifung etwa um ein Jota weniger zu verurteilen gewesen? Und wie sieht es in Polen aus, wo der Vorkriegs-Antisemitismus weitaus krassere Formen hatte als in der Weimarer Republik? Wo die Juden im Gegensatz zur Situation in Deutschland auch ein ethnisch viel eindeutiger „fremdes“ Element innerhalb der Mehrheitsgesellschaft bildeten und zur Zielscheibe von scapegoating und stereotyping wurden? (vgl. exemplarisch Viktoria Pollmanns Untersuchung Untermieter im christlichen Haus.) Ist diese Art der Diskriminierung, die der aktuellen anti-islamischen Stimmung in Europa in gewisser Hinsicht frappierend ähnelt, etwa allein vor dem Hintergrund des Holocaust verwerflich?

Bleiben wir beim Stichwort Polen. Dessen Premierminister Donald Tusk, so berichtete eine israelische Presseagentur vor einigen Wochen irrtümlich, habe einen jüdischen Großvater gehabt. Hintergrund: Tusk entstammt der Minderheit der Kaschuben, die seit Jahrhunderten im deutsch-polnischen Grenzland bei Danzig gelebt und eine Art „hybrider“ Identität gepflegt hatten. (Günter Grass, selbst kaschubischer Abstammung, hat Land und Leuten in der Blechtrommel ein literarisches Denkmal gesetzt.) Im Zweiten Weltkrieg wurde Tusks Großvater zur Wehrmacht eingezogen – was Tusk im Präsidentschaftswahlkampf 2005 möglicherweise zum Verhängnis wurde: Diese „Enthüllung“ dürfte jedenfalls dazu beigetragen haben, dass Tusk dem nationalistischen Gegenkandidaten Lech Kaczynski unterlag. Im Interview mit der führenden Tageszeitung Haaretz berichtete Tusk von diesem Vorfall und erläuterte die Hintergründe:

„Meine kaschubische Familie, das sind, ähnlich wie die Juden, Menschen, die in Grenzregionen geboren wurden und gelebt haben und von Nazis und Kommunisten mangelnder Loyalität bezichtigt wurden.“

„Moja kaszubska rodzina, podobnie jak Żydzi, to ludzie którzy urodzili się i żyli w regionach przygranicznych i byli oskarżani przez nazistów i komunistów o brak lojalności“ (zitiert nach Gazeta Wyborcza, Originalartikel hier).

Sachlich nicht ganz einwandfrei, aber es ist klar worauf Tusk hier hinaus will: Auf einen Vergleich des Status  von Juden und Kaschuben als unfreiwillige „Grenzexistenzen“, als „uneindeutig“ (im Sinne Zygmunt Baumans); mal besitzergreifend eingemeindet, mal Gegenstand eines gnadenlosen  „Othering“. In dieser Hinsicht sind sich die europäischen Juden der Vorkriegszeit, Kaschuben, Deutsch-Türken und britische Moslems durchaus nicht unähnlich.

Nun muss man solche Vergleiche nicht mögen. Man mag sie, wenn man denn will, als wichtigtuerisch sehen oder als anbiedernd. Aber aus ihnen den Vorwurf eines latenten oder offenen Antisemitismus zu destillieren oder in ihnen den Versuch zu sehen, den Juden „ihren“ Holocaust zu entwenden, ist einigermaßen absurd.  Tusks Vergleich, obwohl oder weil direkt an ein israelisches Publikum gerichtet, hat denn auch keinerlei Empörung ausgelöst. Bei Malik sah das schon anders aus – bei Sen bekanntlich ganz anders. So drängt sich auch der Verdacht auf, dass man in Sens Fall vielleicht nur eine Gelegenheit genutzt hat, eine längst fällige Abrechnung zu vollziehen:

Im SPIEGEL wies Ferda Ataman auf Sens „Doppelzüngigkeit“ hin; er äußere sich in deutschen und türkischen Medien regelmäßig widersprüchlich. Ataman zitiert den Dortmunder Kommunikationsforscher Daniel Müller mit den Worten: „In den deutschen Medien ist er seit über 20 Jahren der verständnisvolle Türkei-Experte, in den türkischen der Anwalt der unterdrückten Landsleute.“ Da mag etwas dran sein; Ataman liefert  jedenfalls reichlich Anschauungsmaterial, um Sens Agieren als „Doppel-V-Mann“ (so Willi Zylajew, CDU) und das politische Unbehagen ob dieser Rolle zu illustrieren.  Von daher schwingt in dem Artikel auch eine gewisse Schadenfreude mit, dass es Sen nun endlich „erwischt“ hat – wenn freilich auch aus den falschen Gründen:

„Dass Faruk Sen […] die Welt nicht mehr versteht, ist durchaus nachvollziehbar. Er hat in weitaus bedeutenderen türkischen Medien Aussagen gemacht, bei denen er froh sein konnte, dass sie in Deutschland ignoriert wurden. Und ausgerechnet jetzt, wo er einmal die Türkei kritisiert – ‚mit einem ehrenwerten Anliegen‘, wie Sen sagt, wird ihm das zum Verhängnis.“