Kann Richard Ingram lesen?

Der 1937 geborene Richard Ingrams ist ein britischer Journalist, dem als Mitbegründer der Satire-Institution Private Eye Respekt gebührt. In den letzten Jahren war er Kolumnist für die linksliberale Wochenzeitung The Observer, 2005 wechselte er zu The Independent. Der Observer sei ihm nicht mehr links genug gewesen, und dann war da noch die Sache mit dem Irak-Krieg… »There was also a feeling that, you know, the paper had gone downhill. I was very disappointed with their coverage of the war. It was the kind of thing you want The Observer to take a certain line on. There is — or rather there was — an Observer tradition, which was, you know, broadly speaking, a left-wing tradition. I really feel that has gone,«erzählte er damals in einem Interview. Er hat sich gegen die israelische Besatzungspolitik und die anglo-amerikanische Unterstützung dafür ausgesprochen und sich damit dem üblichen Antisemitismus-Vorwurf ausgesetzt. Und statt zu versuchen, sich dagegen zu verwahren (ein ohnehin aussichtsloses Unterfangen, da Antisemitismus-Vorwürfe sich nie falsifizeren lassen), provoziert er seine Ankläger mit einer (nicht nur) nach deutschen Maßstäben kaum vorstellbaren Chuzpe. Soweit so gut, auch dafür Respekt. Aber Ingrams fehlt ein wesentlicher Charakterzug, ohne den eigentlich kein Satiriker auskommt, nämlich Respektlosigkeit. Und zwar gerade vor solchen Institutionen, die habituell Respekt von anderen einfordern und mit diesem Rohstoff nicht viel mehr produzieren als Respektabilität, oder was sie dafür halten. Eine solche Institution sind organisierte Religionen bzw. religiöse Institutionen. Sie sind eine Art »respektverarbeitende Industrie«. Dass Satiriker Ingrams sich in seiner anglikanischen Kirche jeden Sonntag an die Orgel setzt, könnte man ihm noch als ironisches Statement durchgehen lassen – schließlich ist auch die politisch korrekte Kritik an Religion und Kirche bei vielen längst zu einer wohlfeilen Pose geworden, die dafür ebenfalls keinen Respekt verdienen. Aber bei Ingrams steckt mehr dahinter als Freude an der Provokation, wenn man dem Gewährsmann des New Statesman, dem Jesus-BiographenA.N. Wilson glauben darf: »His unquestioning devotion to Christianity amounts to a lot more than playing the organ at his local church in Aldworth, Berkshire. It is a paradox to find profound faith in a man whose work is fundamentally irreverent [meine 
Hervorhebung] […] „He has a literal belief in such things as the miracles,“ says Wilson. „He really thinks Jesus turned water into wine. I tried to engage him on it, but he wouldn’t be drawn. He said hardly anything.«

Manchmal sagt er er aber doch etwas. Und dann stimmt er z.B. ein in den öden Chor derer, die Richard Dawkins als gebetsmühlenhaft als respektlos und »schrill« kritisieren – selbst wenn etwas an dem Vorwurf dran wäre, ist das alles andere als ein Gottesbeweis. Nun wäre das zwar auf eine für jemanden wie Ingram zutiefst enttäuschende Weise langweilig, aber sonst nicht weiter von Belang. Schließlich befindet er sich damit in großer (wenn auch nicht guter) Gesellschaft. Richtig schlimm ist, dass Ingrams sich entweder selbst nicht die Mühe gemacht hat, Dawkins Gotteswahn zu lesen – oder dass er ihn selbst zwar gelesen hat, aber darauf setzt, dass sein eigenes Publikum es nicht getan hat und er ihm daher krasse Falschaussagen unterjubeln kann. Aus Anlass des von teilweise tatsächlich ziemlich albernen Protesten begleiteteten Papstbesuch in Großbritannien im September 2010, um die Dawkins wirklich besser einen Bogen gemacht hätte, schreibt Ingram ironisch um den Zustand des Atheismus besorgt, dieser brauche einen »rationaleren« Fürsprecher als Dawkins. Seine Angriffe seien derart maßlos, dass sie die Menschen eher in die Arme der Kirche trieben. Dazu mag man stehen, wie man will. Außerdem aber schreibt er Dawkins zu, er wolle leidenschaftlich daran glauben, »that there is absolutely nothing in the world that cannot be scientifically explained.« Was sagen die Fakten? Dawkins behauptet keineswegs, dass es nichts gebe, das nicht wissenschaftlich erklärt werden könne. Er schreibt im Gegenteil: »Perhaps there are some genuinely profound and meaningful questions that are forever beyond the reach of science. Maybe quantum theory is already knocking on the door of the unfathomable« (»Vielleicht gibt es ein paar wirklich tiefgründige und sinnvolle Fragen, die für immer außerhalb der Reichweite der Wissenschaft liegen. Vielleicht klopft die Quantentheorie schon an die Tür des Unergründlichen.«) Aber, so Dawkins eigentliche These: Wenn die Wissenschaft schon ratlos ist, wieso sollte man dann annehmen, dass ausgerechnet die Religion hier weiter weiß? Plausibler sei es, dass die Religion erst recht ratlos sein müsse: »But if science cannot answer some ultimate question, what makes anybody think that religion can?« Das ist schon etwas völlig anderes als das, was Ingrams Dawkins unterstellt. Dawkins leidet keineswegs an wissenschaftlichen Allmachtsphantasien. Er weigert sich lediglich, angesichts des (vorläufigen oder endgültigen) Unvermögens des rationalen Denkens, bestimmte Dinge zu erklären, dieses Vermögen »religiösen Gefühlen« und ihren selbsternannten Verwaltern zuzuschreiben.